Fragen zur Philosophie?
http://www.facebook.com/people/Berthold-Reiter/100007007806699
Es war im Jahre 1985, da trällerte eine österreichische Popgruppe namens Erste Allgemeine Verunsicherung einen Refrain, der sofort zum geflügelten Wort wurde:„Das Böse ist immer und überall“. Während man bei einer Internetrecherche nach diesem Titel heutzutage auf Seiten mit satanistischen Inhalten stößt, war die ursprüngliche Ironie des Titels nicht zu übersehen: Das scheinbar allgegenwärtige Böse war von einer nicht zu überbietenden Harmlosigkeit, und nur die Polizei glaubte tatsächlich noch an seine Existenz – kein Wunder, war es doch gleichzeitig ihre eigene Existenzberechtigung. Ganz ähnlich verhält es sich mit einer ebenfalls höchst populären literarischen Gattung, die eine der letzten Enklaven des Bösen darstellt: Im Kriminalroman, so sollte man meinen, ist das Böse tatsächlich immer und überall. Aber ist das wirklich so? Sherlock Holmes hatte in dem berüchtigten Professor James Moriarty noch das personifizierte Böse schlechthin im Visier; heutzutage verfolgen Kurt Wallander und seine Kollegen Mörder ohne Gesicht. Dazwischen liegen eine Jahrhundert- und eine Jahrtausendwende; Zeit genug für vielfältige Verwandlungen des Bösen.
Erinnern Sie sich? Wahrscheinlich war es während der Pubertät, als Sie zum ersten Mal das kleine Büchlein aufschlugen – ein richtiges Buch, aber mit ganz weißen Seiten – und nach den ersten Worten suchten.Vielleicht hießen sie: „Liebes Tagebuch“; und wahrscheinlich waren sie in Schönschrift geschrieben, mit einem besonders angenehm in der Hand liegenden Stift; und womöglich waren Sie etwas aufgeregt, so als täten Sie etwas ganz Verbotenes. Vielleicht haben Sie eines oder sogar mehrere Büchlein gefüllt; doch irgendwann meldete sich, wie man so sagt, das Leben selbst zu Wort, und die Bücher verschwanden in einer sehr tiefen Schublade des Schreibtischs, wanderten durch mehrere Umzugskartons und gerieten schließlich auf die große Müllhalde des Vergessens (oder haben Sie sie gar stilecht verbrannt?).
Robert Musil entwirft in seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" eine Theorie des Gefühls vor dem Hintergrund der Gestalt- und Ganzheitspsychologie seiner Zeit. Er begreift Gedanken und Gefühle als untrennbare Phänomene. In der Geschichte der Erkenntnis werde jedoch der emotionale Anteil an der Erkenntnis der Wirklichkeit zugunsten der Verdienste des rationalen Verstands und der wissenschaftlichen Objektivität systematisch verdrängt. Demgegenüber betont Musil die Notwendigkeit einer Geschichte des Gefühls, die neben der einen Welt der Wirklichkeit auch andere, mögliche Welten erschließen würde. Um jedoch nicht in einen mystisch gefärbten Irrationalismus zu geraten, muss das Reden über Gefühle wissenschaftliche Genauigkeit mit anschaulicher Lebendigkeit verbinden. Musils Ziel ist ein sachlicher Enthusiasmus des Denkens, der die verlorene Einheit von Gedanken und Gefühlen wiederherstellt und für die Zukunft der Menschheit unentbehrlich ist, wenn sie nicht in einseitiger Rationalität erstarren oder das Gefühl den Gefahren ideologischer Manipulation überlassen will.
Wo ist der Weise zu Hause? Hat die Philosophie eine Heimat? Für den heutigen Intellektuellen ist die Frage wohl relativ leicht zu beantworten: Er nährt sich von den Brosamen der unterschiedlichsten Weltanschauungen,hat keine geistige Heimat mehr und ist somit in zunehmendem Maße betroffen von „transzendentaler Obdachlosigkeit“. Die Metapher von der transzendentalen Obdachlosigkeit,die Georg Lukacs zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner Romantheorie prägte, kann leicht auf die Philosophie übertragen werden: Das antike Äquivalent des Romans, das Epos – beziehungsweise die antike Philosophie –, zeigte eine „abgerundete Welt“, die dem Menschen eine „urbildliche Heimat“ gab; der moderne Roman – beziehungsweise die moderne Philosophie– kann das angesichts der potenziellen Unendlichkeit der globalisierten Welterfahrung in der Neuzeit nicht mehr leisten. Gleichzeitig jedoch, so Lukacs, bleibt die Sehnsucht nach der überschaubaren und doch allumfassenden Sinnfülle im heimatlich abgeschlossenen Erfahrungskreis erhalten. Das Individuum wird dadurch „transzendental obdachlos“,es wandert ziellos durch die Wälder und Sümpfe der postmodernen Beliebigkeit. Aber an welchem Feuer wärmt sich der obdachlose Philosoph?Wovon zehrt seine Seele? Wo findet er seine ganz persönliche Heimat im Denken?
Was hat Metaphysik mit Werbung zu tun? Nichts – Metaphysik ist eine der altehrwürdigen Grundmauern der abendländischen Zivilisation, auf der ganze Generationen von Philosophen ihre Systeme errichtet haben. Alles – da so gut wie alle diese Systeme eingestürzt sind,von der Realität überholt wurden und nur noch das übrig geblieben ist, worauf sie errichtet wurden: das menschliche Bedürfnis danach, dem Leben einen Sinn zu geben, der über das Sicht- und Greifbare, die schnöde Materie hinausreicht. Meta-physik – es muss etwas geben jenseits der physis, der Natur, ihren erbarmungslosen Gesetzen und der von ihr so provozierend vorgeführten Vergänglichkeit alles körperlich Seienden. Und,wenn man das schon nicht beweisen kann: Wäre es nicht schön, wenn man es kaufen könnte?
Wenn die „großen“ Philosophen vom Glück reden, meinen sie zumeist nicht das Lebensglück des Einzelnen im Hier und Jetzt, sondern die „Glückseligkeit“ als abstraktes Letztziel der Menschheit und als eine der zentralen Kategorien philosophischer Ethik. Tritt Philosophie hingegen in ihrer sich zunehmender Beliebtheit erfreuenden Populär- und Verkleinerungsform als „Lebenskunst“ auf, preist sie zumeist das „kleine Glück“ – all das, was erreichbar und machbar erscheint,was über die Härten des Alltags hinweg hilft und das Leben, in kleinen Portionen genossen, lebenswert machen kann. Über das „kleine Glück“ rümpfen all diejenigen die Nase, die es nur mit Spießbürger- und Philistertum, mit Mittelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit, mit Pantoffeln und Wellness assoziieren können und wollen. Für sie spricht der All-Zertrümmerer Friedrich Nietzsche, dessen Zarathustra von den Höhen seines Übermenschentums herab in seiner Rede über die verkleinernde Tugend schimpft: „Zur kleinen Tugend möchten sie mich locken und loben; zum Ticktack des kleinen Glücks möchten sie meinen Fuß überreden. Ich gehe durch dies Volk und halte die Augen offen: sie sind kleiner geworden und werden immer kleiner – das aber macht ihre Lehre von Glück und Tugend. Sie sind nämlich auch in der Tugend bescheiden – denn sie wollen Behagen … Dies aber ist – Mittelmäßigkeit: ob es schon Mäßigkeit heißt.“
Aber was ist falsch am „kleinen Glück“, an Pantoffeln der Häuslichkeit statt der Siebenmeilenstiefel des Weltgeistes, am gemütlichen Wohnzimmer statt den einsamen Gipfeln des Geistes, an der überschaubaren Idylle im Schrebergarten anstelle metaphysischer Heimatlosigkeit (siehe Erläuterung), an bunten Gartenzwergen anstelle von monochromer gegenstandsloser Kunst? Gibt es nicht vielleicht doch ein richtiges Leben im falschen, ein „kleines Glück“ vielleicht auch im großen Unglück, wenn man nur den Maßstab oder die Perspektive ändert?
Sein Leben war von Widersprüchen zerrissen, aber vielleicht gerade dadurch ein getreues Abbild seiner Zeit. Es fiel in die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, den Übergang von Revolution zu Restauration, von Aufklärung zu Romantik; eine "Sattelzeit" (R. Koselleck), und Friedrich Schlegel war ganz sicher mehr als nur einer ihrer Steigbügelhalter: Er galoppierte selbst tollkühn voraus, wurde bald aber von der Realität eingeholt und endete ein wenig als – Herrenreiter im Seniorensitz.
Das Ende hat eine schlechten Ruf. "Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne", das prangt in Poesiealben, auf Selbsthilfebüchern, und sogar auf Twitter finden sich Hashtags #jedemanfang. Sie werden bildlich umschwärmt von Vorstellungen von Frühling, Jugendfrische, erster Liebe; erstaunlich selten allerdings von der ersten Scheidung, der ersten Vorstrafe, der ersten Operation - ebenso ergreifende Ereignisse, sicherlich, aber eben ohne die Beflügelung, die der magische Anfang verleiht. Wäre es aber möglich, dass auch jedem Ende ein Zauber innewohnt, ein magischer Abschluss, eine - vielleicht nicht Beflügelung, aber Befriedung, Befriedigung, vielleicht sogar: eine Befreiung?
Wörterbuchartikel